Wie ein paar Striche die Welt eroberten

Wie ein paar Striche die Welt eroberten

Als für uns Menschen noch die Höhle das Heim war und Sprache so futuristisch wie selbständig steuernde Automobile, konnten wir unseren morgendlichen Kräuteraufguss schweigend genießen und brauchten uns nicht gleich nach dem Aufstehen das Gequake der Mitbewohner anzuhören. Andererseits waren der Flirt und gar erst weiterreichende Annäherungen erheblich erschwert, da die Halbäffin, die wir anbeteten, nicht mal einen Namen trug. Und „he, Du da“ (diese Worte gab es bereits) war schon damals keine sehr erfolgversprechende Anmache.

In diesem Zustand der Namenlosigkeit befanden sich die Dinge, die uns in unserer Zeit zumeist als Ware unterkommen, noch bis 1973 in den USA, in Europa sogar bis 1977. Dann kam das EAN-System, und die Sachen begannen sich plötzlich zu erkennen. Zunächst waren es nur einige Experten-Dinge, die dieses Talent entwickelten – 1979 waren in der Bundesrepublik Deutschland ganze neun Scannerkassen in Betrieb. In einigen großen Lebensmittel-Discountern wurde das System flächendeckend erst im neuen Jahrtausend eingeführt.

In den achtziger Jahren bedruckten jedoch immer mehr Hersteller ihre Ware mit den einheitlichen Strichcodes. Die zunehmende Verbreitung von ERP-Systemen, die die Warenwirtschaft zu automatisieren begannen, machte die Balken erst richtig nutzbar. Nun glitt die Milchtüte anmutig zum Barcode-Scanner und hauchte: „Hallo, ich bin die 0401254744658.“ Der Scanner zwinkerte ihr infrarot zu und beeindruckte sie mit seinem Wissen: „Hallo Vollmilch von Glückskuh, Du bist mit deinen 89 Pfennigen heute ja wieder besonders attraktiv. Aber von Dir sind nur noch 19 Stück auf Lager, da werden wir gleich mal nachbestellen, denn ohne Dich ist es hier so öde.“

Längst haben die EAN-Scanner und die sie unterstützenden Server ihre Methoden, Wirkung auf die Milch zu erzielen, weiter verfeinert. Sie helfen ermitteln, dass Äpfel besonders häufig neben der Milch zur Kasse rutschen und welche Art von Käufern (die mageren nämlich) magere Milch bevorzugt. Das ‚Internet der Dinge‘, ein für die nächsten Jahre angekündigter Techno-Hype, der uns interessante Dialoge zwischen unserem Kühlschrank und unserem Auto verspricht, ist also in einem sehr sinnvollen Teilbereich schon seit Jahrzehnten Realität.

EAN als Quantensprung in der IT

Es ist ein bewährtes System, das neueren Entwicklungen wie RFID (Chips, die auf Produkten befestigt sind, übermitteln und empfangen Daten) dank seiner Robustheit und Preisgünstigkeit auch noch lange standhalten wird. Die Einführung verlief dabei mühevoll. Unter der technischen Leitung von IBM mussten unzählige Hersteller aus den unterschiedlichsten Industrien ihre Besonderheiten und Wünsche mit ähnlich vielen Händlern in Einklang bringen. Zwischen beiden standen die Hersteller von Hardware und Software, die das Modell in die Praxis umsetzen sollten – zu einer Zeit, in der die wenigen Computer, die außerhalb der Forschung bereits im Einsatz waren, noch mit Lochkarten bedient wurden.

Eine der Herausforderungen war zum Beispiel, dass die Fachkraft an der Kasse des Supermarktes keine Zeit damit verschwenden sollte, die Ware richtigherum zu drehen. Zeitersparnis war ein wichtiges Motiv für die Einführung von EAN und ist es noch heute. Also musste jeder Streifencode unabhängig davon vom Scanner zu entziffern sein, ob die Zahlen darunter auf dem Kopf standen oder aufrecht, ja sogar schräg sollten sie lesbar sein. Zu diesem Zweck entwickelte ein Mathematiker ein System, das den Zahlencode, der zunächst das herstellende Unternehmen und dessen konkreten Artikel repräsentierte, in binäre Streifen umsetzte: jede Ziffer fand eine Entsprechung in einer eindeutigen Abfolge schwarzer und weisser Linien. Dazu wurden Anfang, Ende und Mitte des Codes gesondert markiert, so dass der Scanner eine Information über die Ausrichtung des vorliegenden Codes hatte. Die mittige Markierung ermöglichte es den Maschinen darüberhinaus, das Muster nacheinander in zwei Schritten zu erfassen – sehr nützlich, wenn die Ware schief auf das Lesegerät traf.

Wie Menschen und Dinge sich auseinander entwickelten

Der lange Prozess, der in der Schaffung der EAN sein vorläufiges Ende fand, war einer, der Menschen und Ware einander immer unähnlicher machte. Zwar waren Menschen natürlich schon immer insofern ganz anders als ihre Produkte, als diese, von Vieh abgesehen, leblos und jene quicklebendig waren. Ansonsten hatten sie bis zur Industrialisierung aber oft einiges gemeinsam. Bis die Maschinen die Fertigung übernahmen, waren die Erzeugnisse der Manufaktur individuell. Schuhe oder Hämmer ähnelten einander, doch alle waren sichtbar Einzelstücke, sowie ihre Hersteller und Käufer. Häufig waren sie Maßanfertigungen. Es wäre sinnlos gewesen, Tische mit einem Code zu versehen, denn jeder war anders.

Mit der industriellen Fertigung gab es plötzlich Serien, Typen, Modelle. Artikel waren sich nicht mehr nur ähnlich, sie wurden identisch – eine ID für sie wurde sinnvoll. Denn neben der Steigerung der Effizienz und der besseren Qualitätssicherung bot diese Entwicklung weitere Vorteile. Die Ware, nun von ganz anderer Eigenart als der Mensch, konnte auch ganz anders als er behandelt werden. Menschen mögen Freiheit und lassen sich ungern mit Etiketten versehen. Bei der Ware war das jetzt aber sehr wünschenswert und möglich. Die Ware darf sich nicht autark bewegen, sie soll wie Sträflinge unter Kontrolle sein, wir wollen immer wissen, wo im Lager sich wieviele eines bestimmten Artikels befinden. Die Ware soll auch keine individuelle Charakteristik aufweisen, sie hat stets zu sein wie einmal festgelegt. Die Codierung unterstützt beide Anforderungen.

Hinter den Strichen noch viel mehr

So dient der EAN-Code heute auch als Marketing-Maßnahme, denn er signalisiert dem Kunden ein einheitliches, überwachtes Fertigungsverfahren und somit gesicherte Qualität. Das Produkt ist registriert, es hat sich nicht von irgendwoher ins Regal geschummelt. Zugleich dienen die zentral in einer Datenbank hinterlegten und von jedem Verkäufer online und im Laden nutzbaren Daten zum Artikel einer sauber entwickelten Marketing-Strategie. Marke und Beschreibung der Ware sind dank EAN überall gleich.

Der Erfolg der EAN-Codierung kam nicht über Nacht, aber er war nachhaltig. Die unverständlichen und ungewohnten Muster lösten bei manchen Ängste aus. Übten die Codes eine geheime Wirkung aus? Strahlten sie etwa? Die besonders Ängstlichen übermalten die Balken nach dem Einkauf mit einem Filzstift oder zerschnitten sie gar. Inzwischen kann als gesichert gelten, dass derlei Befürchtungen gänzlich und immer unberechtigt waren…

Es gibt stattdessen heute Liebhaber, die sich die spezielle Eigenart des Systems zueigen machen, dass der Verkäuferin auf ihrem Display eine kurze Beschreibung des gerade erfassten Artikels angezeigt wird. Dies hilft unter anderem dabei, Missbrauch durch gefälschte Codes zu verhindern. Ein kecker Käufer, der sich für die Schönheit hinter der Kasse interessiert, könnte also einige Waren in korrekter Reihenfolge aufs Band legen und eine etwas elliptische, aber poetische Anzeige auslösen wie etwa: „Zucker – Rose – Hammer – Die Zeit“. Reagiert sie darauf, ist es ein weiteres Argument für sie – und für EAN.